Pfarrer Mathias Stieger über mein Bild von der Winterszene in Häslgehr
Wir betrachten nun gemeinsam dieses Bild, von Christine Schneider gemalt und in unserer Kirche in dieser Kirchenjahreszeit ausgestellt. Vielleicht meinen einige, dass es ein sogenanntes Stillleben sei, gemalt nach genauer Betrachtung des Objekts. Es ist ein Winterbild. Das Marterl unter einem großen verzweigten Laubbaum, es könnte eine Eiche sein, im Hintergrund ein umzäuntes Feld, schneebedeckt. Unter dem Gekreuzigten sieht man noch einen neu hinzugefügten Untersatz, auf dem eine Topfpflanze als Zeichen der Verehrung steht. Eigentlich eine winterliche Idylle an der man Freude haben könnte. Sollten wir uns an den Gekreuzigten am Wegrand so gewöhnt haben, dass wir nicht mehr Empathie zeigen und nicht mehr erkennen, was für ein Geschehen dieses Bild eigentlich vermittelt.
Das Marterl zeigt ja einen Menschen, der nicht durch Erhängen, nicht durch eine Kugel, nicht durch eine Injektion, nicht auf dem elektrischen Stuhl sitzend, getötet wird und qualvoll nach Stunden erst stirbt. Mitten in dieser idyllischen Winterlandschaft Leid und Schmerz, Blut und das Ausgelöschtwerden eines Lebens. Eigentlich ein stummes sinnloses Leiden, ohne Hoffnung, ohne Ausweg. Nur der Tod bringt die Erlösung von den Qualen. Neben den alltäglichen Leiden und Schmerzen, die wir alle erleben, die unser Leben manchmal wie ein Erdbeben hin und her rütteln, gibt es noch ganz in die Tiefe gehende Leiden, die den Verstand und die Gefühle zum Erliegen bringen.
Dorothee Sölle schreibt in ihrem Buch „Leiden“: „Der große Leidensdruck versetzt in total empfundene Ohnmacht, die Autonomie des Denkens, Redens und Handelns ist uns genommen. Wir sind vollständig situationsbeherrscht und die kaum formulierte Klage gleicht eher dem Schrei eines Tieres. Es gibt in der teilaufgeklärten Gesellschaft viele Erscheinungsformen solchen Leidens, das keine Sprache findet. Zwischen dumpfen Brüten und jäher Explosion gibt es keine andere Form der Expression. Solches archaisches Leiden wirkt, weil Institutionen und Rituale den Einzelnen nicht mehr absichern und ihm eine überpersönliche Sprache leihen, weil ein Lernprozess aus dem Stummsein heraus nicht vollzogen wird, neurotisierend, häufig auch kriminalisierend“.
Wir erleben manchmal „das stumme Leiden“ an uns selbst oder bei anderen, bei lieben und uns nahestehenden Menschen, wenn für Leid und Schmerz keine Sprache mehr gefunden werden kann.
Unlängst kam eine Nachbarin zu mir und fragte mich, was sie mit einem traurigen Mann anfangen solle, den sie betreut, der nicht mehr reagieren würde, weder auf ein Telefonat noch auf das Klopfen an die Tür. Er hätte ihr bei der letzten Begegnung mitgeteilt, dass er nur sterben wolle, nichts anderes. Ich riet ihr nochmals intensiv an der Tür zu klopfen und danach, wenn er nicht aufmachen würde, die Polizei zu verständigen, um die Tür aufbrechen zu können. Am nächsten Tag hat sie all das gemacht und in die Wege geleitet. Sie fanden den Mann leblos in seinem Zimmer liegen.
Ich zitiere nochmals Dorothee Sölle: „In den deutsche Konzentrationslagern wurden die nur noch Dahindämmernden, die sich ihr Essen wegnehmen ließen, im Lagerjargon `Muselmänner` genannt, wohl wegen der Ergebenheit in ihr Fatum. Sie sind ein Bespiel solchen extremen Leidens, das zur Selbstaufgabe und Apathie im klinischen Sinn des Wortes führt. Es gibt Schmerzen, die den Menschen blind und taub machen.“
2. Dazu lese ich einige Verse aus dem 22. Psalm.
a. Was mir zunächst auffällt an diesem Text ist, dass Jesus am Kreuz noch eine Sprache findet. Er kann zu Gott schreien und tut es mit Worten, die er aus der Tradition seines Volkes kennt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen.“ Zu dem, der ihn scheinbar verlassen hat, zu Gott Adonai, kann er immer noch rufen. Der Leidende gehört zum Volk Gottes, dem er sich verbunden fühlt. Er kennt die alten Texte, die ihm gerade in dieser ausweglosen Situation helfen, seinen Schmerz zu artikulieren. Auch wenn sein Leiden sinnlos zu sein scheint, wer versteht auch heute noch, dass Jesus für unsere Sünden gestorben sei, schreit er Gott an oder schreit zu Gott. Sind es Worte des Vorwurfs, der Auflehnung gegen Gott? Er weiß sich mit Gott, auch wenn er ihn anschreit, verbunden. In aller Gottverlassenheit wendet er sich an Gott.
Das ist vielleicht der große Unterschied zu vielen Menschen heute, die mit dem Leid konfrontiert werden. Auch wenn sie zur Kirche gehören, kennen sie ihre Sprache nicht mehr und findet sich eigentlich auch nicht zugehörig, wenn ich an unsere verstreuten Evangelischen im Außerfern denke. Die meisten zahlen ihren Kirchenbeitrag, einige treten aus, waren und sind nur noch über den Gemeindebrief mit der Pfarrgemeinde verbunden, sind vielleicht mit ihrer Familie lose katholisch sozialisiert, nach dem Motto „es gibt ja nur einen Gott“, was ja auch ökumenisch stimmt und kennen die Sprache der Bibel und der evangelischen Kirche kaum noch. Das soll keine Kritik, sondern eine Feststellung, für mich eine traurige Feststellung sein.