Sehnsucht nach Stille
Laut Wikipedia bedeutet Stille „die empfundene Lautlosigkeit, die Abwesenheit jeglichen Geräusches.“ Stille bietet uns Trost, Klarheit und ist ein Luxusgut geworden. Völlige Stille kann auch bedrohlich für uns sein und macht uns Angst.
Von Christine Schneider
Die Sonne scheint, es hat ein wenig geschneit, und ich mache mich auf den Weg in die Stille. Jetzt, im Winter, ist die Zeit, wo man sie an den Stuibenfällen wieder findet. Ich erreiche den Eingang, wo das Wasser von Becken zu Becken strömt. Meine Ohren empfinden es als zu laut. Ich gehe weiter und erreiche das sanft plätschernde Wasser des Bächleins. Dort setze ich mich hin und genieße die „Stille“.
Geräusche gibt es hier einige, aber sie stören mich nicht. Im Gegenteil, sie lassen mich ruhig werden. Ich erinnere mich gut an mein Erlebnis von absoluter Stille um mich herum. Es war im Gebirge in Nordindien. Kein Vogel war zu hören, kein Bach, kein Windhauch. Dafür wren meine Sinne besonders geschärft und warteten auf irgend eine Unterbrechung der Stille.
Vor 20 Jahren gab es um die Mittagszeit eine Sonnenfinsternis. Das sehe ich heute noch vor mir.
Ich stand im Wald, als sich der Mond über die Sonne schob. Das war ein Moment der Totenstille: Die Vögel hörten auf zu zwitschern und es wurde eiskalt. Es war, als ob die Welt und ich den Atem anhielten. Nach ein paar Minuten entfernte sich der Mond, und die Sonne fing wieder an zu leuchten und zu wärmen, die Vögel begannen – zuerst zaghaft - wieder zu singen, als ob sie sich vom Schreck erholen müssten, und ich war froh, als die Sonne die Kälte vertrieb.
Diese paar Minuten absoluter Stille habe ich sehr intensiv wahrgenommen. Nicht umsonst wissen Künstler, dass die Farben eines Gemäldes umso heller vor dunklem Hintergrund leuchten. Das hat Rembrandt in seinen Bildern meisterhaft umgesetzt. Das Licht eines Bildes lebt von der Dunkelheit. Der berühmte Pianist Alfred Brendel sagte einmal „Stille ist die Grundlage der Musik, manche Stücke nehmen aus der Stille Gestalt an und führen in die Stille zurück“.
Andererseits meiden Kaufhäuser die Stille. Man hat festgestellt, dass Stille konsumhemmend wirkt. Darum muss die Verkäuferin eine Endlosschleife von „Stille Nacht, heilige Nacht“ oder „Jingle Bells“ als Hintergrundmusik anhören.
Gegenüber vom Bächlein scheint jetzt die Sonne, und das Wasser rieselt leise über die Steine. Um mich zu entspannen, zu meditieren brauche ich die Stille. Doch jeder Mensch braucht Stille für kreative Denkprozesse, die in entspannten Zuständen stattfinden.
In vielen Religionen wird der Stille eine große Bedeutung beigemessen. Wie zum Beispiel im Buddhismus. In der Meditation setzt man sich in einen stillen Raum oder in die Natur, wo man zum Beispiel nur dem Plätschern des Wassers zuhört.
Im Christentum kennen wir das stille Gebet oder die Kontemplation. In dem Dokumentarfilm „Die große Stille“ von Philip Gröning wird das erste Wort erst nach 20 Minuten gesprochen. Es geht um das Leben der Mönche in einem Kartäuserkloster in den französischen Alpen. Gröning verzichtet im dreistündigen Film ganz auf Filmmusik, aber man hört das Knistern des Feuers im Ofen, das Knacken der alten Balken, das Läuten der Glocken oder die Mönche beim Stundengebet.
Hier an den Stuibenfällen wird es mir nun kalt, und die kleinen Tümpel fangen an, zuzufrieren. Ich denke an Insekten im Wasser, und ich weiß, dass die Larven von Libellen etwa zwei Jahre im Wasser leben, bis sie an einem Grashalm andocken, an die Oberfläche krabbeln und sich häuten. Wasser gefriert an der Oberfläche, und am Grund hat es 4 Grad. Für mich ist es ein Wunder, dass die Larven in diesem kalten Wasser leben können. Sie haben sich unter Steinen verkrochen und verharren in der Winterstarre. Im Frühjahr gehen sie wieder auf die Jagd nach Wasserinsekten.
Die Säugetiere haben sich im Herbst eine dicke Fettschicht angefressen und bewegen sich so wenig wie es geht, weil sie die Energiereserven für den langen Winter brauchen. Wenn sie nicht gestört werden, stehen oder sitzen sie den Winter aus und verringern ihren Stoffwechsel auf ein Minimum. Ich muss mich wieder bewegen, damit mir warm wird, und gehe weiter, das Bächlein aufwärts Richtung Wasserfall.
Die Stille und Dunkelheit im Winter wirkt oft auch sehr bedrückend auf uns, weil wir so an Lärm gewöhnt sind. Völlige Stille wird als unangenehm und beängstigend wahrgenommen und wir wehren uns mit Weihnachtsbeleuchtung und vielen Kerzen vor den langen Nächten und der Stille.
In den steinernen Wasserbecken flüchtet gerade ein Fisch lautlos in den schwarzgrünen Untergrund. Stille! Es tut gut, die schweigsamen Fische zu beobachten. Der Schnee schluckt die Geräusche des
Waldes. Vom Hang kullern lose Steine herunter. Ich überlege, ob dort oben eine Gemse stand und die Steine lostrat oder die Verwitterung durch Frost und Tauen des Wassers in Felsspalten die
Ursache ist.
Kein Vogel ist zu hören, auch sonst kein Tier. Auch kein Mensch stört die Stille. Von weitem höre ich jetzt den Wasserfall, etwas zaghaft. Auf einem alten Foto habe ich gesehen, wieviel Wasser
früher den Felsen hinunter in den kleinen See hinein stürzte. Die Kraft des Wasserfalls wurde gebrochen, um Strom zu gewinnen - und übrig ist ein kleines Rinnsal. Er erinnert mich an einen
kastrierten Hund.
Trotzdem ist er immer noch wunderschön. Wenn man die Felsen genauer anschaut, kann man ein Gesicht erkennen.
Jetzt geht es erst mal steil bergauf und dann auf dem Ministersteig wieder zurück. Oben scheint noch die Sonne, und man sieht Berggipfel an Berggipfel - scheinbar bis in die Unendlichkeit.
Zwei Jogger kommen mir entgegen, und ich höre schon den Lärm von Baumaschinen in der Ferne. Der Lärm reißt mich aus meiner meditativen Stimmung. Aber in der Stille der Natur habe ich Kraft geschöpft, Glück und Sonne getankt, mich erfreut am Rieseln des Wassers über Steine, konnte ein wenig in die große Stille der Fische eintauchen und bin dankbar für diesen stillen Nachmittag an den Stuibenfällen.